Dr. Schulte - Rückabwicklung von Lebensversicherungen zwischen Recht, Rendite und Realität -

„Widersprechen statt wegsehen?“ — Rückabwicklung von Lebensversicherungen zwischen Recht, Rendite und Realität

Wer heute seine Lebensversicherung kritisch in die Hand nimmt, spürt rasch: Dieses Papier ist eine Zeitreise. Es erzählt von Zinsversprechen aus einer Niedrigzins-Welt, von Kosten, die sich über Jahrzehnte summieren, und von juristischen Chancen, die vielen erst jetzt bewusst werden. Rückabwicklung ist dabei mehr als ein elegantes Wort: Sie ist ein rechtliches Instrument, das einen Vertrag so behandelt, als hätte er nie bestanden. Und sie ist – bei fehlerhafter Belehrung – viel öfter möglich, als die Branche lange glauben machen wollte. Dass dies kein Randthema ist, zeigen die Dimensionen: Ende 2023 zählten die deutschen Lebensversicherer 81,4 Millionen Verträge im Bestand – ein finanzielles Ökosystem von enormer Tragweite.

„Das ewige Fenster“ – Warum der Widerspruch Türen öffnet, die längst geschlossen schienen

Der Wendepunkt kam 2014: Der Bundesgerichtshof entschied (IV ZR 76/11), dass die starre Jahresfrist des alten § 5a VVG bei Lebens- und Rentenversicherungen europarechtskonform zu begrenzen ist. Wer beim Abschluss zwischen dem 29. Juli 1994 und dem 31. Dezember 2007 nicht ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt wurde, kann auch Jahre später widersprechen – mit der Folge einer Rückabwicklung. Diese Linie folgt dem EuGH vom 19.12.2013 und hat die Rechtslage für Millionen Altverträge neu geordnet.

Verbraucherschützer halten seither fest: Fehlt die korrekte Belehrung, läuft die Widerspruchsfrist nie an – das Recht bleibt bestehen. Für Betroffene kann das bares Geld bedeuten, weil bei der Rückabwicklung nicht nur der Rückkaufswert zählt, sondern die wirtschaftliche Rückabwicklung des gesamten Vertragsverhältnisses geprüft wird.

Doch das vermeintlich „ewige“ Recht hat Konturen: In jüngeren Entscheidungen zog der BGH punktuell Grenzen, etwa bei der Frage, wann formale Fehler erheblich sind und welche Anforderungen an Belehrungstexte zu stellen sind. Die Botschaft: Der Weg ist offen, aber anspruchsvoll; Substanz schlägt Formalismus, die Details entscheiden.

Veränderung der Lebensversicherung - Sven Enger

„Insider, Aktuar, Anwalt“ – Drei Blickwinkel auf dasselbe Risiko

Sven Enger, heute Geschäftsführer der auxinum GmbH und früher Vorstand mehrerer Lebensversicherer, bringt eine seltene Innenperspektive mit. Er kritisiert den Systemwechsel weg vom kollektiven Sicherungsversprechen hin zu renditegetriebenen Produkten und fordert, Verbraucher konsequent bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen. Genau deshalb hat er „die Seiten gewechselt“. Seine Stimme ist unbequem – und notwendig.

Der Aktuar Prof. Philipp Schade, der als Gutachter auf betriebliche Altersversorgung und Lebensversicherungsmathematik spezialisiert ist, legt den Finger in eine stille Wunde: Rechenwerk und Überschussmechanik. Er mahnt seit Jahren, dass Überschusszuweisungen und Vertragsauslegungen kritisch geprüft werden müssen – nicht selten mit dem Ergebnis, dass Kunden mehr zusteht, als sie erhalten. Wer Rückabwicklung diskutiert, sollte daher zuerst rechnen, dann reden.

Der Berliner Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte bündelt diese Perspektiven prozessual. Er begleitet seit Jahren Rückabwicklungen und verweist auf ein wachsendes Feld: Auch gekündigte Verträge können rückabgewickelt werden, wenn die Belehrung fehlerhaft war – rechtlich solide, aber durchsetzungsintensiv. Sein praktischer Befund: Das Recht ist stark, doch ohne Beharrlichkeit verpufft es.

„Zahlen, die knistern“ – Warum die Makrolage die Mikrofälle prägt

Rückabwicklung ist ein juristischer Hebel, der in einer ökonomischen Landschaft wirkt: Jahrzehntelang niedrige Zinsen, seit 2022/23 eine kräftige Zinswende – und nun, ab 2025, die Erhöhung des Höchstrechnungszinses auf 1 Prozent. Für Neuverträge ist das ein wichtiges Signal. Für Altverträge zeigt es: Die Konditionen der Vergangenheit und die Realität der Gegenwart haben sich entkoppelt. Wer einst mit hohen Garantien startete, erlitt im Zinstief Renditefrust; wer spät einstieg, bekam Minimalkost. Heute dreht sich das Rad erneut.

Gleichzeitig atmen die Bilanzen: Die Zinszusatzreserve, die den Niedrigzins schmerzhaft abfedern musste, wird seit der Zinswende teilweise aufgelöst; 2022 etwa wurden rund vier Milliarden Euro entnommen. 2024 berichten Fachmedien über nennenswerte Rückflüsse bei einzelnen Anbietern. Diese Entlastung kann künftig Spielräume für Überschussbeteiligungen und Leistungsbilder öffnen – doch sie ist kein Automatismus, und sie heilt keine fehlerhaften Vertragsbelehrungen der Vergangenheit.

Und dann sind da die Kosten. Die BaFin hat Vertriebe und Produktkalkulationen zuletzt scharf beäugt und in Einzelfällen Effektivkosten kritisiert, die Renditechancen auszehren. Wer eine Rückabwicklung prüft, muss die Kostenhistorie verstehen – und fragen, ob der Vertrag jemals die Chance hatte, seine Versprechen nach Kosten und Steuern einzulösen.

Mathematische Rückabwicklung mit Prof. Dr. Schade

„Rechnet sich das?“ — Der ökonomische Kern des Widerspruchs

Die Gretchenfrage lautet: Lohnt sich die Rückabwicklung? Pauschale Antworten greifen zu kurz. Maßgeblich ist der individuelle Vertrag: Abschlussjahr, Form und Inhalt der Widerspruchs- bzw. Widerrufsbelehrung, Beitragsverlauf, gezahlte Kosten, realisierte und nicht realisierte Überschüsse, Laufzeit und der Status des Vertrags (laufend, beitragsfrei, gekündigt, ausgezahlt). Versicherte mit ab 1994 geschlossenen, falsch belehrten Altverträgen können – je nach Rechenweg – häufig deutlich mehr als den Rückkaufswert erzielen. Verbraucherzentralen bekräftigen, dass sich in solchen Konstellationen der Widerspruch oft spürbar auszahlt.

Praxisnahe Erfahrungswerte aus Rückabwicklungen skizzieren interessante Spannen. In Auswertungen von auf Rückabwicklungen spezialisierten Kanzleien und Plattformen finden sich Fälle, in denen Rückzahlungen (inklusive Nutzungsersatz) merklich über den reinen Rückkaufswerten liegen. Für die belastbare Bewertung braucht es jedoch eine saubere aktuariell-juristische Doppelprüfung – eine Domäne, in der Aktuare wie Prof. Schade und Prozessanwälte wie Dr. Schulte zusammenfinden.

„Fallstricke und Fehlschlüsse“ – Was das Recht gibt und was es verlangt

Rückabwicklung ist kein „Freifahrtschein“. Erstens: Nicht jeder Fehler ist erheblich, nicht jeder Text unzureichend. Die Belehrung muss im Einzelfall geprüft werden – formal, sprachlich, optisch, systematisch. Zweitens: Die Einrede der Verwirkung ist immer wieder ein Streitpunkt; die rechtliche Linie hier ist differenziert. Drittens: Wer bereits ausgezahlt bekam, kann dennoch Rechte haben – auch das ist möglich, aber detailabhängig. Die Rechtsprechung bleibt in Bewegung, und der BGH justiert Grenzen.

Viertens: Der Gegenwind der Praxis. Versicherer erkennen Fehler nicht immer ohne Weiteres an, verweisen auf vermeintliche Heilungen oder bestreiten die Höhe des Nutzungsersatzes. Hier braucht es langen Atem, klare Rechenwerke, belastbare Gutachten und juristische Präzision. Genau das ist die Schnittmenge der Expertise unserer drei Protagonisten: Engers Systemblick, Schades Zahlenkunst, Schultes Prozesshandwerk.

„Vom Einzelfall zur Welle?“ — Was die nächsten Jahre bringen

Die Branche steht an einer Zeitenwende: steigende Zinsen, angehobener Höchstrechnungszins, Entspannung bei der Zinszusatzreserve – und zugleich ein Altbestand mit Millionen Verträgen, die unter alten Paradigmen verkauft wurden. Der GDV meldet weiterhin sehr hohe Vertragszahlen; die Frage ist, wie viele davon wirtschaftlich sinnvoll fortgeführt werden sollten und wie viele rechtlich angreifbar sind. Je mehr Verbraucher prüfen, desto sichtbarer wird die Divergenz zwischen Prospekt und Performance.

Man darf erwarten, dass spezialisierte Einheiten das Terrain professionalisieren: Aktuarielle Prüfpfade, Standardgutachten, Legal-Tech-gestützte Vorprüfungen, Prozessfinanzierungen und Sammelklagen-nahe Strukturen, soweit zulässig. Das erhöht die Vergleichsbereitschaft der Versicherer – aber auch deren Verteidigungswillen. Wenn die Aufsicht parallel Kostenthemen adressiert und die Zinsseite Luft verschafft, könnten neue Produktgenerationen entstehen. Für Altverträge bleibt die Lehre: Transparenz ist kein „Nice-to-have“, sondern Prozessrisiko.

Rechte Lebensversicherung Rückabwicklung - Dr Thomas Schulte

„Was tun?“ — Die Dramaturgie eines guten Rückabwicklungsfalls

Der klügste erste Schritt ist kein Brief, sondern eine Analyse. Prüfen, ob der Vertrag in den relevanten Zeitraum fällt. Prüfen, ob die Belehrung formell korrekt war. Prüfen, welche Beiträge wann geflossen sind, welche Kosten anfielen, welche Überschüsse zugewiesen wurden und was davon tatsächlich im Vertrag ankam. Erst dann entscheidet man über den Weg: Rückabwicklung, Anpassung, Beitragsfreistellung, Fortführung. Das ist kein Gegensatz zu konsequentem Handeln, sondern dessen Voraussetzung. Die Erfahrung zeigt: Wer rechnet, gewinnt Verhandlungsmacht – und spart Prozessrisiko.

Engers Rat ist, Verbraucher nicht zu unterschätzen: Wer seine Unterlagen sortiert und die eigene Erwartung mit den realen Zahlungsströmen abgleicht, entdeckt die Logik hinter dem Vertrag – und erkennt, ob er fortgeführt oder beendet werden sollte. Schades Ansatz: Mathematische Transparenz macht aus Vermutungen belastbare Ansprüche. Schultes Erfahrung: Wo Anspruch und Beleg sauber sind, entsteht Druck zur Einigung – und wenn nicht, trägt das Verfahren.

„Schlussfrage, keine Schlussfolgerung“ – Muss Ihre Police bleiben?

Rückabwicklung ist kein Allheilmittel, aber oft die richtige Antwort auf falsche Belehrung und verfehlte Rendite. Die aktuelle Zinswende verbessert die Perspektiven neuer Produkte, doch sie ändert nichts daran, dass ein fehlerhaft begründeter Altvertrag juristisch angreifbar bleibt. Wer heute handelt, handelt nicht gegen die Lebensversicherung als Idee – sondern für ein faires Ergebnis im Einzelfall. Die Kunst besteht darin, Systemkritik mit Zahlenlogik und Rechtsdurchsetzung zu verbinden. Dann wird aus einem dicken Ordner eine klare Entscheidung. Und genau das ist das Versprechen der Rückabwicklung: Sie stellt nicht nur Geldflüsse, sondern auch Erwartungen wieder richtig.

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 11941 vom 24. November 2025 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich