Europa im Rohstoffdilemma – Dr. Peter Riedi und Dr Thomas Schulte

Europa im Rohstoffdilemma – Zwischen Machtanspruch, Verantwortung und juristischer Selbstverpflichtung

Ein Kontinent im Spannungsfeld – die EU zwischen Washington und Peking

Die Europäische Union rühmt sich gern, ein globales Modell für Rechtsstaatlichkeit, Nachhaltigkeit und sozialen Ausgleich zu sein. Doch nirgendwo zeigt sich deutlicher als beim Thema kritische Rohstoffe, wie fragil dieser Anspruch ist. Denn zwischen dem geopolitischen Machtzentrum USA und dem industriellen Giganten China kämpft Europa um eine Position, die nicht nur wirtschaftlich tragfähig ist, sondern auch juristisch und ethisch standhält.

Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt in Berlin, fasst die Lage nüchtern: „Europa will Autonomie – aber Europa benötigt Rohstoffe. Und damit betritt es ein Feld, das nicht nur von Märkten bestimmt wird, sondern von Handelsabkommen, Investitionsschutz und völkerrechtlichen Verpflichtungen.“ Tatsächlich ist die Rohstoffversorgung längst ein strategisches Puzzle aus Zollfragen, internationalen Verträgen und dem europäischen Beihilferecht.

Bezeichnend ist, dass die EU 2024 erstmals ein eigenständiges Gesetz über kritische Rohstoffe verabschiedet hat, das Critical Raw Materials Act. Es trat im Mai 2024 in Kraft und sieht unter anderem vor, dass bis 2030 mindestens 10 Prozent des Jahresverbrauchs innerhalb der EU gefördert und mindestens 15 Prozent recycelt werden sollen. Zusätzlich wurden Ende März 2025 13 strategische Projekte in Drittstaaten bestätigt – von Kanada über Kasachstan bis nach Südafrika. Zusammen mit den 47 Projekten in der EU entsteht damit ein Geflecht an rechtlich gebundenen Lieferverträgen, Investitionszusagen und Standards, das den Anspruch auf Versorgungssicherheit untermauern soll.

Die juristische Dimension – Verträge als Rückgrat der Autonomie

Rechtlich stellt sich die Frage, wie verbindlich diese Projekte tatsächlich sind. Dr. Schulte erläutert: „Verträge über Rohstofflieferungen sind nicht einfach Kaufverträge. Sie sind meist multilaterale Abkommen, die völkerrechtlich geschützt und unter Investitionsschutzabkommen gestellt werden.“ Sollte ein Förderland wie Kasachstan oder Brasilien politische Restriktionen verhängen, drohen langwierige Streitigkeiten vor internationalen Schiedsgerichten. Für Unternehmen bedeutet das unkalkulierbare Risiken – ein juristisches Minenfeld, das viele in Europa noch unterschätzen.

Dr. Peter Riedi, Schweizer Ökonom weist auf einen weiteren Aspekt hin: „Es geht nicht nur um die Frage, ob wir die Rohstoffe bekommen. Sondern auch darum, ob wir sicher sein können, dass Lieferketten nicht durch Sanktionen, Exportkontrollen oder politische Destabilisierung zusammenbrechen.“ Aus Sicht der Schweiz und Liechtensteins sei politische Neutralität ein strategischer Vorteil. Beide Länder sind weltweit anerkannt für stabile rechtliche Rahmenbedingungen, die gerade für sensible Rohstofflagerung Vertrauen schaffen.

Lithium auf dem Weltmarkt - Dr. Peter Riedi

Die Abhängigkeit in Zahlen – Europa im Schatten der Weltmärkte

Dass diese Sorgen mehr als akademisch sind, belegen die Zahlen: Über 90 Prozent der in Europa verwendeten Seltenen Erden kommen aus China. Beim Magnesium liegt der Anteil bei über 85 Prozent, bei Bauxit bei über 80 Prozent. Allein der Bedarf an Lithium wird sich laut Internationaler Energieagentur bis 2030 um das Achtfache steigern. Und trotz der Green-Deal-Rhetorik liegt die Recyclingquote für Seltene Erden in Europa bei kaum messbaren 1 Prozent.

Damit wird der Widerspruch offensichtlich: Europa fordert Nachhaltigkeit, liefert aber nur begrenzt die juristische Grundlage, diese Abhängigkeiten verbindlich zu reduzieren. Für Dr. Schulte ist dies ein rechtspolitisches Versäumnis: „Es reicht nicht, strategische Papiere zu veröffentlichen. Die Europäische Union muss rechtlich durchsetzbare Standards entwickeln – nicht nur auf dem Papier, sondern mit handhabbaren Mechanismen für Streitbeilegung, Haftung und Vertragsstrafen.“

Ein moralischer Imperativ – Ressourcen als gemeinsame Verantwortung

Neben den juristischen und wirtschaftlichen Dimensionen hat das Thema auch eine zutiefst menschliche Komponente. Rohstoffe sind mehr als Handelsware – sie sind Geschenke aus den Tiefen der Erde. Ihre Gewinnung betrifft oft Regionen, in denen Arbeitsrechte, Umweltauflagen und soziale Gerechtigkeit unter Druck stehen.

Dr. Peter Riedi mahnt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass es in Sambia, im Kongo oder in Brasilien Menschen sind, die für unseren Fortschritt sehr hart schaffen. Die Art und Weise, wie wir Rohstoffe beschaffen, ist ein Spiegel unserer ethischen Reife.“ Dieser moralische Anspruch wird in Zukunft zur Messlatte für Europas Glaubwürdigkeit werden. Denn die Bevölkerung erwartet mehr als technische Lösungen – sie verlangt soziale Fairness und ökologischen Respekt.

Verantwortung als Gamechanger – vom juristischen Anspruch zum politischen Handeln

Die Europäische Union hat mit dem Critical Raw Materials Act erstmals ein verbindliches Rechtsinstrument geschaffen, das strategische Projekte privilegiert und Lieferketten absichern soll. Es ist ein wichtiger Schritt. Doch die Realität wird zeigen, ob Verträge, Abkommen und strategische Partnerschaften ausreichen, um ein neues Zeitalter der Versorgungssicherheit zu begründen.

Dazu gehört auch, dass Europa lernt, Machtpolitik mit Verantwortung zu verbinden. Ressourcen sind kein unbegrenztes Gut. Sie sind ein kollektives Erbe der Menschheit – und sie sollten nicht zu Waffen werden in einem geopolitischen Verteilungskampf, in dem am Ende alle verlieren könnten.

Dr. Schulte und Dr. Riedi sind sich einig: Nur wenn Europa seinen juristischen Anspruch mit ethischer Verantwortung und wirtschaftlicher Weitsicht verbindet, kann es zwischen Washington und Peking eine eigenständige Rolle behaupten. Ein Kontinent, der glaubwürdig sein will, muss zeigen, dass Fortschritt nicht nur an Kilowattstunden oder Wachstumsraten gemessen wird – sondern an der Frage, wie wir mit den Schätzen dieser Erde umgehen.

Europa benötigt Rohstoffe - Dr Thomas Schulte

Fazit – die Stunde der Verantwortung

In einer Zeit, in der der Wettlauf um Rohstoffe längst begonnen hat, stehen Europas Institutionen vor der größten Bewährungsprobe ihrer Geschichte. Es ist nicht nur eine Frage der Industriepolitik, sondern eine Prüfung unserer moralischen Integrität.

Die Verfügbarkeit strategischer Rohstoffe wird entscheiden, ob Europas Klimaziele und digitaler Aufbruch Wirklichkeit werden oder an der Rohstoffrealität scheitern. Gleichzeitig wird die Art und Weise, wie wir diese Ressourcen sichern, darüber bestimmen, ob wir unserer Verantwortung als globaler Wertepartner gerecht werden – oder ob wir in den gleichen Mustern enden, die wir an anderen kritisieren.

Vielleicht ist dies die größte Chance Europas: zu zeigen, dass wirtschaftlicher Ehrgeiz und moralischer Anspruch kein Widerspruch ist, sondern gemeinsam zum Gamechanger einer neuen, respektvolleren Ära des Wirtschaftens werden können.

Europäische Vorgaben, globale Verantwortung – der Balanceakt zwischen Sicherung und Verträglichkeit

Mit dem Critical Raw Materials Act hat die Europäische Union erstmals rechtsverbindliche Vorgaben formuliert, die den Zugang zu strategischen Rohstoffen langfristig sichern sollen. Bis 2030 sollen mindestens 10 Prozent des Bedarfs innerhalb der EU gefördert, 40 Prozent in der EU verarbeitet und mindestens 15 Prozent recycelt werden. Außerdem verpflichtet sich die Union, alle Projekte unter strikten Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien (ESG-Standards) zu bewerten. Die jetzt beschlossene Liste von 60 strategischen Projekten – 47 in der EU und 13 in Drittstaaten – muss laut Verordnung nachweisen, dass sie zur Versorgungssicherheit beitragen, faire Arbeitsbedingungen gewährleisten und negative Umweltauswirkungen minimieren.

Doch genau hier stellt sich die kritische Frage: Wie glaubwürdig ist es, dass Europa einerseits den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft fordert, gleichzeitig aber auf Lieferketten setzt, die oft in Regionen beginnen, in denen Umweltstandards nur auf dem Papier existieren? Dr. Thomas Schulte sieht darin ein ungelöstes Spannungsfeld: „Es genügt nicht, juristisch saubere Verträge zu unterzeichnen. Wir müssen uns auch fragen, welche Verantwortung wir für Menschen, Regionen und Ökosysteme tragen, die wir in diesen Rohstoffhunger einbeziehen.“

Dr. Peter Riedi betont ergänzend, dass die globale Dimension nicht mehr wegzudiskutieren ist: „Die Welt ist so klein geworden, dass jede Tonne Kobalt, jeder Kubikmeter Lithium nicht nur ein Industriematerial ist, sondern ein Teil eines globalen Beziehungsgeflechts. Wer diese Zusammenhänge ignoriert, verspielt Vertrauen – ökonomisch, ökologisch und gesellschaftlich.“

In einer Zeit, in der der Planet an vielen Stellen überlastet ist, wird die Frage, wie Europa seine Rohstoffpolitik gestaltet, zum Lackmustest: für seine Glaubwürdigkeit, für seine Zukunftsfähigkeit – und für den Respekt gegenüber allen, die mit diesen Ressourcen leben müssen.

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 11558 vom 8. Juli 2025 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich