LV-Rückabwicklung unter Treu und Glauben – wann Gerechtigkeit zur Frage des Vertrauens wird - Dr Schulte

LV-Rückabwicklung unter Treu und Glauben – wann Gerechtigkeit zur Frage des Vertrauens wird

Treu und Glauben im Stresstest – wie Gerichte Rückabwicklungen lenken und Versicherte ihr Vertrauen zurückgewinnen?

Es gibt diese entscheidenden Momente in einem Rechtsgebiet, in denen sich eine Idee vom gerechten Ausgleich mit der Praxis des Gerichtssaals verschränkt. Die Rückabwicklung von Lebensversicherungen ist an einem solchen Punkt angekommen. Nach Jahren der Grundsatzentscheidungen geht es nicht mehr nur um das Ob, sondern um das Wie: Welche Grenzen setzt Treu und Glauben? Wie kalkulieren Gerichte Nutzungen, Risikoanteile und Einzelfallumstände? Und was heißt das für Versicherte, die heute informiert, anspruchsvoll, zahlenfest  nicht weniger wollen als einen fairen Ausgleich?

Warum der Ton schärfer wird: vom „ewigen Widerspruch“ zur Einzelfallgerechtigkeit

Die Leitplanke ist gesetzt: Verträge, die in der Ära des Policenmodells abgeschlossen wurden und fehlerhafte Widerspruchsbelehrungen enthalten, können rückabgewickelt werden. Das hat der Bundesgerichtshof seit 2014 in einer Linie klargestellt, die auf Vorgaben des Unionsrechts zurückgeht. Die Widerrufsfrist lief nicht, wenn Verbraucher vor Vertragsschluss nicht ordnungsgemäß informiert waren; das eröffnet den Weg zur Rückabwicklung – mit Rückzahlung sämtlicher Beiträge, Abzug der reinen Risikoanteile und Herausgabe gezogener Nutzungen. Diese Systematik ist kein juristischer Trick, sondern die logische Konsequenz aus Verbraucherschutzrecht und Bereicherungsrecht.

Doch die Praxis prüft die Theorie: 2024 hat der IV. Zivilsenat den Blick stärker auf Treu und Glauben gerichtet. Kernfrage: Kann die Durchsetzung der Rückabwicklung im Einzelfall rechtsmissbräuchlich sein – etwa, wenn eine Police über Jahre als Kreditsicherheit genutzt wurde oder besondere Dispositionen des Versicherungsnehmers entgegenstehen? Die Antwort ist nuanciert: Die Rückabwicklung bleibt der Grundsatz, aber außergewöhnliche Umstände können im Einzelfall sie begrenzen. Es ist die Stunde der sauberen Argumentation – und der sauberen Akte.

Die neue Prozesswirklichkeit: kein Automatismus, sondern Begründungskunst

Wer heute klagt, gewinnt nicht, weil „Policenmodell“ auf dem Deckblatt steht, sondern weil sein Vortrag das Gericht überzeugt. Drei Punkte entscheiden:

Erstens die Belehrungslage. War der Verbraucher vor Vertragsschluss vollständig und verständlich informiert? Wurde der Fristbeginn korrekt erklärt? Die BaFin ordnet die BGH-Linie bündig: Fehlt oder ist die Belehrung fehlerhaft, bleibt der Widerspruch möglich, selbst nach Jahren. Genau hier müssen Schriftsatz und Beweis ansetzen: Policenzustellung, Begleitunterlagen, Fristformulierung.

Zweitens die ökonomische Abrechnung. Rückzahlung sämtlicher Prämien, Abzug der reinen Risikoanteile, Herausgabe gezogener Nutzungen: Diese Formel lebt und stirbt mit Zahlen. Welche Erträge hat der Versicherer mit den Beiträgen tatsächlich generiert? Welche Risikoanteile sind nach aktuarieller Logik – und nicht pauschal – anzusetzen? Hier entscheidet forensische Mathematik über fünfstellige Beträge.

Drittens Treu und Glauben. Wurde die Police bewusst als Kreditsicherheit eingesetzt? Haben sich Versicherungsnehmer dispositiv so verhalten, dass ein späterer „Rücksprung“ in den Status quo ante als unbillig erscheint? Der BGH lässt diesen Einwand zu, aber eng: Es braucht „besonders gravierende Umstände“. Die Praxis zeigt: Saubere Interessenabwägung schlägt pauschale Abwehr.

LV-Rückabwicklung meistern - Dr Thomas Schulte

Zahlen, die neue Fragen stellen: Marktvolumen, Ströme, Chancen

Die ökonomische Kulisse ist groß. Nach aktuellen GDV-Daten lagen die Beitragseinnahmen 2024/2025 im Bereich um die Mitte 90 Milliarden Euro, die Auszahlungen bei gut 100 Milliarden Euro; pro Tag flossen im letzten Jahr rechnerisch knapp 279 Millionen Euro an Leistungen. Diese Makrozahlen sind keine direkte Bemessungsgrundlage einzelner Rückabwicklungen, zeigen aber die Kapitalströme, aus denen Nutzungen erwachsen – und damit den Spielraum, den Versicherte mit sauberer Herleitung heben können. Zugleich dokumentieren Branchenberichte eine Renaissance der Einmalbeiträge und ein moderates Beitragswachstum, während die Produktlandschaft sich unter Zinswende und Kostenfokus neu sortiert. Für Altverträge bleibt das Delta zwischen Rückkaufswert und Rückabwicklung wirtschaftlich latent – und rechtlich greifbar.

Die Strategie der Versicherer – und wie man ihr begegnet

Versicherer setzen in der Verteidigung auf drei Linien. Erstens: Verwirkung und Rechtsmissbrauch mit dem Ziel, den Widerspruch „zu spät“ erscheinen zu lassen. Doch das verkennt, dass gerade die fehlerhafte Belehrung den Fristbeginn verhindert hat; Treu und Glauben darf die Rechtsfortbildung nicht unterlaufen, sondern nur Extremfälle einfangen. Zweitens: Minimierung der Nutzungsherausgabe häufig mit pauschalem Verweis auf Niedrigzinsphasen. Hier trennt die forensische Aktuarik die Spreu vom Weizen, indem sie Portfoliorenditen und Anlagepfade konkretisiert. Drittens: Hochrechnen der Risikoanteile. Auch das ist kein Bauchgefühl, sondern eine Rechenfrage: transparent, methodisch, gerichtsfest. Genau hier zeigt sich, dass Rückabwicklung heute Teamarbeit ist: Juristerei und Mathematik greifen ineinander.

Expertise, die trägt: Dr. Thomas Schulte als Prozessarchitekt

Die Fälle, in denen Dr. Thomas Schulte frühzeitig auf Rückabwicklung setzte, folgten nie einem Schablonenmuster. Zuerst steht die akribische Bestandsaufnahme: Vertragsdatum, Policenlauf, Belehrungstexte, Versandnachweise. Dann die ökonomische Rekonstruktion: Beitragsströme, Risikoanteile, Nutzungen. Schließlich die Strategie: außergerichtlich Druck aufbauen, ohne Prozessreife zu verschenken; gerichtlich spitz auf die entscheidungserheblichen Punkte zielen. Das Bild ist konsequent: Nicht „ewiger Widerspruch“ als Schlagwort, sondern verfahrenssichere Argumentation, die das Gericht entlang der BGH-Leitlinien führt und die Treu-und-Glauben-Debatte vom Kopf auf die Füße stellt.

Was die jüngsten Entscheidungen wirklich bedeuten

Die Entscheidung IV ZR 401/22 aus Juni 2024 ist kein Dammbruch gegen Versicherte, sondern ein Weckruf für Sorgfalt. Sie bestätigt den Rückabwicklungsanspruch bei Belehrungsfehlern im Policenmodell, erinnert aber daran, dass Rechtsmissbrauchseinwände denkbar sind, wenn „besonders gravierende Umstände“ vorliegen, wie etwa eine langfristige, bewusst kreditierende Nutzung der Police als Sicherungsanker. Mit anderen Worten: Der Weg ist offen, aber er verlangt eine saubere Spur von Tatsachen, Berechnung und Abwägung.

Wirtschaftliche Relevanz jenseits des Prozessgewinns

Für Versicherte ist die Rückabwicklung nicht nur eine juristische Korrektur, sondern eine finanzielle Reparatur. Kündigung zahlt den Rückkaufswert, der die Kostenfront der Vergangenheit konserviert. Rückabwicklung spult zurück und zahlt die Bruttobeiträge, bereinigt um tatsächliche Risikoanteile, zuzüglich Nutzungen. In einer Zinswende-Welt steigt die Bedeutung der Nutzungsherausgabe: Je besser Versicherer ihre Kapitalanlagen wieder verzinsen, desto schärfer wird die Frage nach dem Anteil, der auf das vom Kunden überlassene Kapital entfällt. Genau hier können gut vorbereitete Verfahren  juristisch und aktuariell Werte heben, die eine bloße Kündigung niemals freisetzen würde.

Vertrauen zurückgewinnen: Transparenz als Marktprinzip

Wer das Vertrauen der Versicherten zurückwill, muss mit Klarheit führen. Das gilt für neue Produkte – klare Kosten, ehrliche Garantien, verständliche Renditelogik – ebenso wie für die Aufarbeitung alter Verträge. Die Branche verweist zu Recht auf ihre volkswirtschaftliche Rolle; die GDV-Zahlen dokumentieren die Dimension. Aber Vertrauen entsteht nicht aus Volumina, sondern aus Fairness. Der juristische Weg der Rückabwicklung ist dabei nicht das Ende des Produkts Lebensversicherung, sondern die Voraussetzung seiner Erneuerung: Wo das Recht systematisch greift, wächst die Bereitschaft der Verbraucher, wieder langfristig zu vertrauen.

Ausblick: die nächsten drei Kurven

Erstens wird die Treu-und-Glauben-Linie weiter konturiert. Mehr Oberlandesgerichte werden die Schwelle „besonders gravierender Umstände“ ausbuchstabieren. Versicherte gewinnen, wenn sie Dispositionen offenlegen und plausibel machen, dass eine Rückabwicklung keine unbillige Überraschung, sondern die folgerichtige Reaktion auf unterlassene Belehrung ist. Zweitens wird die forensische Aktuarik den Takt setzen: Wer Nutzungen nur schätzt, verschenkt Chancen; wer sie aus Portfoliodaten herleitet, setzt Anker. Drittens wird die Zinswende die Ökonomie der Verfahren nicht verändern, weil alte Verträge plötzlich rentabel würden, sondern weil die Frage der Nutzungsherausgabe in Euro und Cent bemessen wird. Das alles spricht für eine Professionalisierung auf beiden Seiten und für Vergleiche, die den Gerichten Arbeit und den Parteien Zeit sparen.

Schlussgedanke: Die Gerechtigkeitsökonomie der Rückabwicklung

Die Rückabwicklung von Lebensversicherungen ist zur Gerechtigkeitsökonomie geworden: Sie korrigiert Informationsdefizite der Vergangenheit mit den Mitteln des heutigen Rechts. Wer als Versicherter sein Vertrauen zurückwill, muss es nicht geschenkt bekommen – er kann es sich erarbeiten: mit einer guten Akte, einem klaren Rechenwerk und einer Argumentation, die den Maßstab des BGH ernst nimmt. Dr. Thomas Schulte steht für genau diese Schule: gründlich, streitfreudig, aber faktenbasiert – und immer mit dem Ziel, dass am Ende nicht nur eine Police endet, sondern ein Stück Vertrauen zurückkehrt.

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 12060 vom 16. Dezember 2025 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich