Wenn Beratung zur Investition wird – wissen Vermittler wirklich, was ihre Kunden brauchen? Und dokumentieren sie das auch sauber?
Kein fiktives Szenario: Die BaFin hat zwischen März und Juni 2024 insgesamt 72 Beratungsgespräche bei sechs Versicherern und deren Vertriebspartnern im Rahmen einer Mystery‑Shopping‑Aktion begleitet – direkter Blick auf die Wirklichkeit jenseits formaler Berichte und Beschwerden.
Dabei offenbarten sich massive Mängel: In kaum der Hälfte der Fälle wurden Kundenvorlieben, Liquiditätsbedarf, Risikobereitschaft oder Nachhaltigkeitspräferenzen ernsthaft abgefragt. Nur rund 19 von 72 Verträgen erfüllten die EIOPA‑Kriterien hinsichtlich Rendite, Risiko und Nachhaltigkeit. Besonders eklatant: Dokumentationspflichten wie das Basisinformationsblatt oder Offenlegung zu Nachhaltigkeitsrisiken wurden teilweise erst nach Vertragsabschluss, wenn überhaupt, bereitgestellt.
Für die Praxis stellt sich brisanter denn je die Frage:
Wie darf und kann der Gesetzgeber sicherstellen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher bei Versicherungsanlageprodukten tatsächlich bedarfsgerecht, klar und rechtssicher beraten werden – und nicht erst durch hinterher widerrufbare Fehlentscheidungen sensibilisiert werden?
Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt in Berlin, lädt ein, die juristischen Herausforderungen hinter diesen Zahlen zu durchdringen: Welches Spannungsfeld entsteht zwischen formaler Regulierung und wirklicher Verbrauchersicherheit? Und wo droht das Recht, den Markt nur noch regulatorisch, aber nicht praktisch einzuholen?
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat in einer aktuellen Mystery-Shopping-Untersuchung massive Mängel bei der Beratung zum Verkauf versicherungsbasierter Anlageprodukte aufgedeckt. Diese Ergebnisse sind nicht nur alarmierend für Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern werfen auch grundlegende rechtliche Fragen in Bezug auf die Einhaltung europarechtlicher und nationaler Pflichten durch Versicherungsvermittler auf. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein detaillierter Blick auf die rechtlichen Hintergründe und potenziellen Konsequenzen – ein Feld, auf dem Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt in Berlin, als erfahrener Experte umfassend Einblick gewährt.
Einblicke aus dem praktischen Alltag der Aufsicht
Dr. Schulte betont den hohen Wert solcher Mystery-Shopping-Aktivitäten, da sie der Aufsicht ermöglichen, direkt am Ort des Geschehens zu erkennen, wie Beratung im Alltag tatsächlich erfolgt: „Während Beschwerden von Kunden oder interne Prüfberichte häufig ein verzerrtes Bild zeichnen, spiegeln verdeckte Tests reale Situationen wider – was wertvolle juristische wie regulatorische Rückschlüsse ermöglicht.“
Die BaFin hatte in der Studie, die zwischen März und Juni 2024 durchgeführt wurde, Beraterinnen und Berater von sechs deutschen Versicherern sowie deren Vertriebspartner untersucht. Dabei mussten die eingesetzten Testkunden – sogenannte Mystery Shopper – nicht nur eine Beratung in Anspruch nehmen, sondern zum Schein auch Verträge abschließen, welche im Anschluss wieder storniert wurden.
Versicherungsvermittlung unter regulatorischer Beobachtung
Versicherungsbasierte Anlageprodukte (Insurance-Based Investment Products, kurz: IBIPs), zu denen etwa fondsgebundene Lebensversicherungen zählen, unterliegen in ihrer Beratung strengen rechtlichen Vorgaben. Maßgeblich sind hierbei das Versicherungsvertragsgesetz (VVG), die Verordnung über Informationspflichten bei Versicherungsverträgen (VVG-InfoV), die Delegierte Verordnung (EU) 2017/2359 sowie die Offenlegungsverordnung (EU) 2019/2088.
Nach § 60 Absatz 1 VVG sind Versicherungsvermittler verpflichtet, die Wünsche und Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden zu ermitteln und nur Produkte zu empfehlen, die diesen entsprechen. In der Ausführung erläutert § 6 VVG-InfoV, welche Informationen im Beratungsprotokoll dokumentiert sein müssen. Diese Anforderungen beinhalten unter anderem die Darstellung des Kundenprofils, dessen Risikoneigung, Liquiditätsbedürfnisse sowie Nachhaltigkeitspräferenzen.
„Genau an dieser Stelle zeigt die BaFin-Analyse, wie eklatant die Praxis von den Vorgaben abweicht“, kommentiert Rechtsanwalt Dr. Schulte. „In der Hälfte der untersuchten Fälle war nicht einmal erkennbar, ob die empfohlenen Produkte überhaupt geeignet waren.“
Dokumentationsmängel als rechtliches Risiko
Das oft mangelnde oder schwer verständliche Beratungsdokument – teilweise bis zu 400 Seiten stark – ist nicht nur ein Ärgernis für Verbraucher, sondern kann auch rechtlich problematisch werden. Denn eine unzureichende Dokumentation kann zur Unwirksamkeit des Vertrags führen oder zum Schadenersatz verpflichten.
„Es ist ein Grundprinzip im Vertragsrecht: Wer berät, trägt Verantwortung. Und wer diese Beratungspflicht verletzt, dem droht nicht nur ein Reputationsverlust, sondern auch juristisches Ungemach“, so Dr. Schulte. Insbesondere wenn Nachhaltigkeitspräferenzen laut Offenlegungsverordnung gar nicht oder unvollständig abgefragt wurden, kann dies eine Vertragswidrigkeit bedeuten.
Nicht nur rechtliches, sondern auch wirtschaftliches Risiko
Ein weiteres Problemfeld stellt nach der BaFin-Analyse die Kostentransparenz dar. Zwar wurden Renditen in 94 % der Fälle erläutert, die tatsächlichen Kosten jedoch nur in gut zwei Dritteln der Gespräche thematisiert. Die Spanne der jährlichen Kosten betrug zwischen 0,71 % und 3,29 %. Das fällt in vielen Fällen signifikant hinter die Erwartungen der Verbraucher zurück – insbesondere dann, wenn jene eine langfristige, nachhaltige und sichere Anlage suchen.
Rechtsanwalt Dr. Schulte sagt dazu: „Ein beratender Vermittler, der Kosten verschweigt oder diese nicht adäquat erklärt, handelt nicht nur unethisch, sondern verletzt auch seine Informationspflicht – mit spürbaren Konsequenzen für alle Beteiligten. Die Folgen können Rückabwicklungen, Rückzahlungen und Bußgelder sein.“
Beratungsrealität versus regulatorische Zielsetzung
Ein bemerkenswerter Befund der Untersuchung betraf den großen Anteil sogenannter Multi-Option-Produkte: In 68 von 72 Fällen erhielten die Testkunden solche Produkte, obwohl dies nicht durchgehend ihrer Risikoneigung oder ihren Wünschen entsprach. Diese Produktklasse erlaubt flexible Anlageentscheidungen innerhalb des Vertrags – ist jedoch auch erklärungsbedürftig.
Ob hier bloße Verkaufstaktik oder schlicht mangelhafte Beratung vorliegt, müsse im Einzelfall geprüft werden. Fakt ist: Die EIOPA-Kriterien (Europäische Aufsicht), welche die Vereinbarkeit von Renditeerwartung, Risiko und Nachhaltigkeit einfordern, wurden lediglich in 19 Fällen erfüllt.
Der Experte dazu: „Wenn fast drei Viertel der Verträge diese grundlegenden Kriterien nicht erfüllen, spricht das für ein strukturelles Beratungsproblem.“
Vertrauen in den Versicherungsvertrieb erschüttert
Gerade in Zeiten zunehmender finanzieller Eigenverantwortung legen viele Bürger ihre Altersvorsorge oder Investitionen in Versicherungsanlageprodukte an – ein Bereich, in dem Vertrauen grundlegend ist. Die Erkenntnisse der BaFin erschüttern dieses Vertrauen deutlich.
Dr. Schulte nimmt dies zum Anlass, einen grundsätzlichen Appell zu formulieren: „Das Ziel jeder Beratung muss sein, ein Produkt zu finden, das zur Person passt – nicht umgekehrt. Wenn die regulatorische Realität eine andere Sprache spricht, ist nicht der Verbraucher Schuld, sondern der Rechtsrahmen in der Anwendung.“
Auswirkungen für Vermittler und Anbieter
Die Konsequenzen der Untersuchung werden nicht ausbleiben. Die betroffenen Versicherer sollen laut BaFin kontaktiert werden, um systemische Mängel zu beheben. Für juristische Beobachter wie Dr. Schulte steht fest: Auch Schadensersatzforderungen unzufriedener Kundinnen und Kunden könnten folgen.
Darüber hinaus eröffnet sich ein ganzes Feld für aufsichtsrechtlichen Austausch, etwa über Maßnahmen zur Nachschulung von Vermittlern oder zur Vereinheitlichung der Dokumentation. Es ist denkbar, dass in Zukunft technische Lösungen wie standardisierte Beratungsprotokolle oder digitale Gesprächsanalysen gesetzlich vorgeschrieben werden.
Die Rolle der Rechtswissenschaft und -praxis
Als Fachanwalt für Kapitalmarktrecht nimmt Dr. Schulte regelmäßig an wissenschaftlichen Kolloquien zum Thema Verbraucherschutz teil und engagiert sich für mehr Transparenz im Finanzmarkt. Dabei geht es ihm nicht um Sanktionen, sondern um die praktische Einhaltung durchführbarer Regeln.
„Normklarheit erzeugt Normtreue – darüber hinaus brauchen wir Aus- und Fortbildung“, sagt er. „Die juristische Diskussion darf dabei nicht in Elfenbeintürmen verharren, sondern muss in die Vertriebsetagen vordringen.“
Ausblick: Was lernen wir aus dieser Analyse?
Die Ergebnisse des BaFin-Mystery-Shoppings zeigen, wie groß die Diskrepanz zwischen gesetzlichen Anforderungen und gelebter Beratungspraxis ist. Es bleibt zu hoffen, dass Aufsichtsbehörden und Gesetzgeber diese Erkenntnisse zum Anlass nehmen, praktikablere und durchsetzungsstärkere Formate zu entwickeln.
Denn eines bleibt im Sinne des Verbraucherschutzes unerlässlich: Nur wer versteht, was er unterschreibt – und warum –, kann sinnvolle finanzielle Entscheidungen treffen.