Was ist bedeutet progressive Kundenwerbung aus Sicht der Juristen? – Was kann ich als Betroffener tun?
Ist progressive Kundenwerbung legal? Juristische Einschätzung für Verbraucher
Ein junger arbeitsloser Mann, nennen wir ihn der Einfachheit halber Michael K., wird von einem Bekannten angesprochen und ihm wird eine neue lukrative Geschäftsgelegenheit vorgestellt. Michael K. soll Repräsentant einer Telefongesellschaft werden, die mit einem Tarif wirbt, bei dem alle Kunden untereinander kostenlos telefonieren können. So weit so gut und nichts illegales zu erkennen. Allerdings müssen neue Repräsentanten eine Einstiegsgebühr von 614 Euro zahlen – für den „Verwaltungsaufwand“.
Liegt hier schon ein strafbares Schneeballsystem vor?
Zunächst zur Rechtslage:
Am 8. Juli 2004 trat ein neues Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (kurz: UWG) in Kraft, welches das alte, seit 1909 in Kraft befindliche UWG ablöste (BGBl. 2004, S. 1414 ff.). Der früher in § 6e UWG a.F. geregelte Straftatbestand der progressiven Kundenwerbung findet sich nun unter dem Begriff der „Strafbaren Werbung“ in der Vorschrift des § 16 Abs. 2 UWG. Geändert hat sich außer der Überschrift jedoch nicht sehr viel. In der neuen Gesetzesfassung wurde lediglich der in der alten Regelung enthaltene Begriff der „Nichtkaufleute“ durch den Begriff des „Verbrauchers“ ersetzt.
Strafbar handelt nach dem für den Nichtjuristen häufig kompliziert klingenden Gesetzeswortlaut, wer es im geschäftlichen Verkehr unternimmt, Verbraucher zur Abnahme von Waren, Dienstleistungen oder Rechten durch das Versprechen zu veranlassen, sie würden entweder vom Veranstalter selbst oder von einem Dritten besondere Vorteile erlangen, wenn sie andere zum Abschluss gleichartiger Geschäfte veranlassen, die ihrerseits nach der Art dieser Werbung derartige Vorteile für eine entsprechende Werbung weiterer Abnehmer erlangen sollen.
Der Tatbestand der progressiven Kundenwerbung bezieht den Kunden in die Vertriebsorganisation des werbenden Unternehmens in einer Weise ein, dass dem Kunden beim Abschluss des Vertrages für den Fall der Anwerbung weiterer Kunden besondere Vorteile in Aussicht gestellt werden. Zu den Haupterscheinungsformen zählt das Schneeballsystem oder das Pyramidensystem. Der Gesetzgeber wollte diese Form der Werbung mit den Mitteln des Strafrechts sanktionieren, weil der Kundenkreis auf diese Weise häufig bis zur Marktverengung anschwillt und ein glücksspielartiger Charakter hervortritt. Elemente dieser verbotenen Werbung sind „Irreführung“, „unlautere Willensbeeinflussung“ und „Vermögensgefährdung“.
In dem oben genannten Beispielsfall handelt es sich in bei der „Verwaltungsgebühr“ nämlich in Wirklichkeit um eine „Kopfprämie“, die an die in der MLM-Struktur (MLM bedeutet „Multi-Level-Marketing“) unmittelbar über einem befindlichen Personen (also an die sogenannte Upline) ausgezahlt wird. In den frei zugänglichen Unterlagen der Telefongesellschaft stand nämlich genau, wie viel an Provision an diejenigen ausgezahlt wird, die eine, zwei, drei usw. Stufen über dem Neueinsteiger stehen.
Die genaue Abgrenzung findet anhand der Merkmals statt, dass es dem Kunden in erster Linie auf den Erwerb der Ware für den eigenen Bedarf ankommt (nicht strafbar) und nicht auf die Erlangung besonderer Vorteile (strafbar).
Bei den illegalen Schneeball- oder Pyramidensystemen steht das Anwerben Berater bzw. die Rekrutierungsprämien im Vordergrund, der eigentliche Verkauf gerät zur Nebensache. Weiter wird der Verkaufserlös eines Vertragshändlers bei diesen illegalen Systemen direkt um die Umsatzproviesion für den Sponsor der nächst höheren Stufe gekürzt. Noch ein wichtiges Merkmal ist, dass Produkte oft zu höheren Preisen von der nächst jhöheren Stufe bezogen werden.
Legale Systeme zeichnen sich oft dafür aus, dass keine hohen finanziellen Vorleistungen für Musterkollektionen, Vorführgeräte und insbesondere für Schulungen erhoben werden. Es besteht weiter keine Pflicht zur Erbringung von hohen Umsätzen, vielmehr ist es dem Vertriebler selbst überlassen wieviel Umsatz er erbringt. Bei legalen Systemen kommt es in erster Linie darauf an, das Produkt zu verkaufen und nicht möglichst viele Verkäufer anzuwerben, die Anwerbung der neuen Verkäufer erfolgt seriös. Zudem steht hinter einem seriösen Jobanbieter oft eine starke Muttergesellschaft und Abrechnungen werden korrekt erstellt un die Provisionen pünktlich bezahlt. Zu guter letzt ist ein gutes Indiz für einen legalen Anbieter, dass auch ein hochwertiges und lieferbares Produkt verkauft werden soll.
Die ist in dem oben erwähnten Fall des Daniel N. in mehreren Punkten nicht der Fall gewesen, die „Verwaltungsgebühr“ und auch die Fixierung auf die Anwerbung von neuen „Repräsentanten“ spricht schon deutlich für eine illegales Schneeballsystem.
Die Grenzen sind aber häufig fließend. Deshalb kommt es in der anwaltlichen Beratung insbesondere darauf an, gemeinsam mit den von einem Strafvorwurf betroffenen Mandanten, den Sachverhalt zu rekonstruieren und diesen Sachverhalt anhand der von der Rechtssprechung entwickelten Tatbestandsmerkmalen zu überprüfen. Weiter ist es entscheidend, auf welcher Stufe der Handelsvertreter in der Struktur eines Unternehmens tätig wird. Problem dabei ist die Gesetzeskonstruktion. Es kann sein, dass das Gesetz sich gegen den Verbraucher bzw. ungeordneten Verkäufer wendet, welcher an einer unteren Stufe steht und das System überhaupt nicht verstanden hatte Dann ist auf einmal das Opfer der Täter.
Als rechtlicher Beistand für einen Betroffenen wie z.b. Michael K. besteht die Möglichkeit, Schadensersatzansprüche wegen der von ihm geleisteten „Verwaltungsaufwandsentschädigung“ geltend zu machen. Voraussetzung dafür ist, dass die Verantwortlichen – die Hintermänner und eigentlichen Großverdiener – bekannt sind; diese wären als Initiator die richtigen Beklagten. Oft halten sich diese aber Person im Verborgenen bleiben lassen sich von „Repräsentanten“ vertreten. Zu beachten ist darüber hinaus die Verjährung, diese tritt drei Jahre nach Kenntnis des Schadens und der Person des Ersatzpflichtigen ein.
Abschließend ist noch festzuhalten, dass immer noch gilt: Strafbar ist es, wenn es im Grunde nicht um ein Produkt geht, sondern nur um den Provisionserlös der Vermittlung neuer Kunden. Alle anderen Behauptungen sind natürlich unrichtig.
Was bedeutet progressive Kundenwerbung – und wann wird sie strafbar?
Immer wieder werden Verbraucher mit lukrativen Geschäftsmodellen angesprochen, bei denen hohe Provisionen durch das Anwerben neuer Teilnehmer versprochen werden. Diese Formen des Vertriebsmarketings werden unter dem Begriff progressive Kundenwerbung zusammengefasst. Doch was verbirgt sich dahinter – und wo verläuft die Grenze zum verbotenen Schneeballsystem?
Fallbeispiel: Michael K. und das vermeintlich seriöse Geschäftsmodell
Ein junger arbeitsloser Mann – nennen wir ihn Michael K. – wird von einem Bekannten für ein neues Vertriebsmodell angesprochen. Er soll Repräsentant einer Telefongesellschaft werden. Der Tarif erlaubt kostenlose Gespräche unter Mitgliedern. Voraussetzung: Michael zahlt 614 Euro „Verwaltungsgebühr“ beim Einstieg. Die Aussicht auf gute Verdienstmöglichkeiten durch das Werben weiterer Repräsentanten klingt verlockend.
Doch bei genauerer Prüfung stellt sich heraus: Die Einstiegszahlung wird als Provision an Personen in höheren Ebenen der Vertriebsstruktur ausgezahlt. Der Produktverkauf tritt in den Hintergrund. Michael K. wird Teil eines typischen MLM-Systems (Multi-Level-Marketing) – mit rechtlich zweifelhafter Struktur.
§ 16 Abs. 2 UWG – Verbotene progressive Kundenwerbung
Das deutsche Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) verbietet in § 16 Abs. 2 die sogenannte progressive Kundenwerbung. Die Vorschrift untersagt Systeme, bei denen:
– Verbraucher durch das Versprechen besonderer Vorteile zum Kauf animiert werden
– Diese Vorteile nur durch das Werben neuer Kunden entstehen
– Die neu geworbenen Kunden ihrerseits weitere Kunden werben müssen
Im Klartext: Wird ein Produkt nur vorgeschoben, um ein Provisionssystem am Laufen zu halten, liegt ein verbotenes Schneeballsystem vor. Der Gesetzgeber sanktioniert diese Systeme wegen ihres glücksspielähnlichen Charakters, ihrer Intransparenz und des häufig damit verbundenen finanziellen Schadens.
Legales MLM oder verbotenes System?
Nicht jede Empfehlungsstruktur ist automatisch illegal. Multi-Level-Marketing (MLM) ist dann zulässig, wenn der Verkauf eines realen Produkts an Endverbraucher im Zentrum steht. Typische Merkmale legaler MLM-Modelle:
✅ Der Vertriebler kann auch ohne Anwerbung durch Produktverkauf Geld verdienen
✅ Keine oder nur geringe Einstiegskosten
✅ Produkte sind lieferbar, marktfähig und werden zu fairen Preisen verkauft
✅ Es besteht keine Verpflichtung zur Rekrutierung weiterer Verkäufer
✅ Provisionszahlungen beruhen auf echten Verkaufsumsätzen
Demgegenüber weisen illegale Systeme oft folgende Merkmale auf:
❌ Hohe Einstiegskosten mit undurchsichtigen Gebühren
❌ Fokus auf Anwerbung neuer Mitglieder
❌ Produkte dienen lediglich als Vorwand für das System
❌ Verantwortliche Personen bleiben im Verborgenen
❌ Die Teilnehmer erhalten Provisionen allein für das Werben neuer Teilnehmer
❌ Abrechnungssysteme sind intransparent oder unvollständig
Im Fall von Michael K. ist die sogenannte „Verwaltungsgebühr“ ein Hinweis auf eine Kopfprämie, die in die Upline fließt. Diese Struktur erfüllt wesentliche Merkmale eines verbotenen progressiven Vertriebssystems.
Rechtliche Risiken für Teilnehmer – wenn das Opfer zum Täter wird
Ein besonderes Problem bei illegalen Vertriebsstrukturen: Auch Verbraucher, die lediglich mitmachen, können juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Wer andere wirbt oder systematisch für ein solches System tätig wird, kann sich selbst strafbar machen – auch ohne betrügerische Absicht.
Es besteht zudem das Risiko, dass Teilnehmer durch ihre Beteiligung an einem verbotenen System:
– zivilrechtlich auf Schadensersatz verklagt werden
– als Mitstörer oder Mittäter strafrechtlich verfolgt werden
– durch Finanzbehörden wegen nicht angemeldeter Einnahmen belangt werden
Was können Betroffene tun? Handlungsmöglichkeiten und rechtliche Tipps
Rückforderung der Einstiegskosten
Wenn die Zahlung – etwa als „Verwaltungsaufwand“ – tatsächlich in eine illegale Struktur geflossen ist, besteht die Möglichkeit, diese Kosten als Schadensersatz vom Betreiber zurückzuverlangen.
Vertragsrücktritt oder Anfechtung
Verträge mit irreführenden oder sittenwidrigen Inhalten können angefochten oder rückabgewickelt werden. Hierzu ist eine genaue Prüfung der Vertragsunterlagen notwendig.
Strafanzeige und Distanzierung
Wer aktiv geworben wurde, kann – und sollte – eine Strafanzeige gegen unbekannt stellen und sich von weiteren Aktivitäten im System deutlich distanzieren.
Verjährungsfrist beachten
Ansprüche auf Rückzahlung und Schadensersatz verjähren in der Regel drei Jahre nach Kenntnis des Schadens (§ 195 BGB). Zeitnahes Handeln ist daher ratsam.
Fazit von Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte
Progressive Kundenwerbung ist rechtlich nur dann unbedenklich, wenn sie auf einem echten Waren- oder Dienstleistungsverkauf basiert. Stehen jedoch hohe Einstiegskosten, Rekrutierungsprämien und das Anwerben neuer Teilnehmer im Zentrum, handelt es sich meist um verbotene Schneeballsysteme.
Das Beispiel Michael K. zeigt: Auch vermeintlich harmlose Einstiegsmodelle können gravierende juristische Folgen haben. Betroffene sollten sich frühzeitig informieren und absichern.
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Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt
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