Was ist überhaupt progressive Kundenwerbung aus Sicht der Juristen – von Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte
Berlin, September 2004. Im Networkmarketing sieht sich der Vertrieb immer wieder in Gesprächen dem Vorwurf des verbotenen Schnellballsystem ausgesetzt. Der Beitrag soll die Unterschiede beleuchten und Argumente herausstellen.
Am 8. Juli 2004 trat ein neues Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (kurz: UWG) in Kraft, welches das alte, seit 1909 in Kraft befindliche UWG ablöste (BGBl. 2004, S. 1414 ff.). Der früher in § 6e UWG a.F. geregelte Straftatbestand der progressiven Kundenwerbung findet sich nun unter dem Begriff der „Strafbaren Werbung“ in der Vorschrift des § 16 Abs. 2 UWG. Geändert hat sich außer der Überschrift jedoch nicht sehr viel. In der neuen Gesetzesfassung wurde lediglich der in der alten Regelung enthaltene Begriff der „Nichtkaufleute“ durch den Begriff des „Verbrauchers“ ersetzt.
Strafbar handelt nach dem für den Nichtjuristen häufig kompliziert klingenden Gesetzeswortlaut, wer es im geschäftlichen Verkehr unternimmt, Verbraucher zur Abnahme von Waren, Dienstleistungen oder Rechten durch das Versprechen zu veranlassen, sie würden entweder vom Veranstalter selbst oder von einem Dritten besondere Vorteile erlangen, wenn sie andere zum Abschluss gleichartiger Geschäfte veranlassen, die ihrerseits nach der Art dieser Werbung derartige Vorteile für eine entsprechende Werbung weiterer Abnehmer erlangen sollen.
Der Tatbestand der progressiven Kundenwerbung bezieht den Kunden in die Vertriebsorganisation des werbenden Unternehmens in einer Weise ein, dass dem Kunden beim Abschluss des Vertrages für den Fall der Anwerbung weiterer Kunden besondere Vorteile in Aussicht gestellt werden. Zu den Haupterscheinungsformen zählt das Schneeballsystem oder das Pyramidensystem. Der Gesetzgeber wollte diese Form der Werbung mit den Mitteln des Strafrechts sanktionieren, weil der Kundenkreis auf diese Weise häufig bis zur Marktverengung anschwillt und ein glücksspielartiger Charakter hervortritt. Elemente dieser verbotenen Werbung sind „Irreführung“, „unlautere Willensbeeinflussung“ und „Vermögensgefährdung“.
Networkmarketing kann dem Tatbestand der progressiven Kundenwerbung nicht ohne weiteres gleichgestellt werden. Dem Straftatbestand unterfallen keine Strukturvertriebssysteme, wenn sie nicht mit der Gewährung besonderer Vorteile für den Fall der Akquirierung weiterer Abnehmer arbeiten. Die genaue Abgrenzung findet anhand der Merkmals statt, dass es dem Kunden in erster Linie auf den Erwerb der Ware für den eigenen Bedarf ankommt (nicht strafbar) und nicht auf die Erlangung besonderer Vorteile (strafbar). Die Grenzen sind häufig fliessend. Deshalb kommt es in der anwaltlichen Beratung darauf an, gemeinsam mit den von einem Strafvorwurf betroffenen Mandanten, den Sachverhalt zu rekonstruieren und diesen Sachverhalt anhand der von der Rechtssprechung entwickelten Tatbestandsmerkmalen zu überprüfen. Entscheidend ist es auch, auf welcher Stufe der Handelsvertreter in der Struktur eines Unternehmens tätig wird. Wenn hier nicht genau abgegrenzt wird, läuft man Gefahr, dass im Rahmen eines Strukturvertriebes derjenige dem Strafvorwurf unterfällt, für dessen Schutz der Straftatbestand geschaffen wurde (dem Verbraucher), da im Strukturvertrieb in aller Regel jeder Verbraucher als Käufer anfängt und die bloße Tatsache der Werbung von Verbrauchern als Handelsvertreter an sich noch nicht strafbar ist. Immer noch gilt: Strafbar ist es, wenn es im Grunde nicht um ein Produkt geht, sondern nur um den Provisionserlös der Vermittlung neuer Kunden. Alle anderen Behauptungen sind natürlich unrichtig.