Regulierung neu denken- Effizienz und Stabilität für Europa - Dr Thomas Schulte

Regulierung neu denken: Effizienz und Stabilität für Europa

Wirtschaft im Umbruch, Recht im Brennpunkt: Europa sucht seinen regulatorischen Kompass. Wie die EU mit intelligenter Regulierung, Prinzipientreue und juristischem Augenmaß zum stabilen Finanzplatz der Zukunft werden kann – ein Plädoyer für Klarheit statt Komplexität

Europa ringt – um Sicherheit, um Wachstum, um Vertrauen. Die tektonischen Verschiebungen der letzten Jahre haben deutlich gemacht: Ein stabiler Finanzplatz entsteht nicht aus der Summe nationaler Silos, sondern aus einem kohärenten, widerstandsfähigen Regelwerk. Doch wie viel Regulierung ist genug – und wann wird sie zum Risiko selbst?

Mitten in einer Zeit multipler Krisen – Ukrainekrieg, Energiepreisschocks, Inflation, Digitalisierung – erreicht die Diskussion um eine neue Aufsichtskultur im Finanzmarkt einen juristisch hochspannenden Punkt. Denn: In kaum einem anderen Bereich prallen ökonomische Realität und rechtliche Ordnung so direkt aufeinander wie in der Regulierung des europäischen Kapitalmarkts.

Die Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit: Laut Europäischer Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA) verloren EU-weite Investmentfonds im Jahr 2022 durch Marktverwerfungen und Liquiditätsabflüsse über 800 Milliarden Euro an verwaltetem Vermögen. Gleichzeitig steigt die regulatorische Dichte – von MiFID II bis DORA, von ESG-Offenlegung bis Krypto-Verordnung – fast exponentiell. Laut einer Analyse der Deutschen Kreditwirtschaft ist die Zahl der regulatorisch relevanten Meldepflichten seit 2010 um über 200 Prozent gestiegen. Kleinere Institute und mittelständische Vermögensverwalter geraten dabei zunehmend unter Druck: Bürokratie frisst Kapazitäten, wo eigentlich strategisches Handeln gefordert ist.

Doch anstatt reflexhaft noch mehr Regeln zu schaffen, braucht Europa jetzt juristische Klarheit und ökonomische Intelligenz – eine Aufsicht, die mitdenkt und nicht bloß verwaltet.

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat in einem viel beachteten Blogbeitrag ein bemerkenswertes Signal gesetzt: weniger Detailversessenheit, mehr Prinzipientreue. Weniger formale Berichtspflichten, mehr materielle Risikoorientierung. Eine regulatorische Renaissance, so die Botschaft – und eine Einladung zur juristischen Neubewertung des europäischen Regelungsrahmens.

Als Rechtsanwalt, der seit über zwei Jahrzehnten Mandanten im Finanz- und Kapitalmarktrecht begleitet, sehe ich in dieser Diskussion nicht nur eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit, sondern eine verfassungsrechtliche Herausforderung: Wie lässt sich Verhältnismäßigkeit sichern, wenn Regulierung komplexe Märkte vereinfachen soll? Welche verfassungsrechtlichen Leitplanken gelten für europäische Harmonisierung, wenn nationale Besonderheiten erhalten bleiben müssen? Und was bedeutet Governance-Verantwortung, wenn einzelne Organe das gesamte Institut gefährden können?

Juristische Fragen, die sich nicht abstrakt, sondern ganz konkret stellen – im täglichen Spannungsfeld zwischen Innovation und Kontrolle, zwischen Compliance und Unternehmergeist.
Denn Europa braucht keine Regelwut – es braucht ein Regelwerk, das schützt, steuert und stärkt.

Die nächsten Schritte – von der Überarbeitung der ESG-Vorgaben über die Reform der Berichtspflichten bis hin zum geplanten Zukunftsfinanzierungsgesetz II – sind Prüfsteine für eine neue Aufsichtskultur. Klar ist: Ohne rechtliches Augenmaß und ökonomische Weitsicht droht Regulierung zum Selbstzweck zu werden. Doch mit juristisch klug gesetzten Prinzipien entsteht eine Grundlage für nachhaltigen Erfolg – für Institute, für Investoren, für Europa.

Als Jurist frage ich daher: Schaffen wir es, aus der Krise die Blaupause einer flexiblen, zukunftsfesten Rechtsordnung zu entwickeln? Oder bleibt Europa im Dickicht seiner eigenen Vorschriften gefangen? Der Rechtsrahmen ist bereit. Was wir brauchen, ist der Mut, ihn konsequent zu nutzen.

Ein Europa der Chancen in Zeiten der Unsicherheit

„Never let a good crisis go to waste“, dieses Zitat von Winston Churchill, das treffend im Blog aufgenommen wurde, trifft den Nerv der Zeit. Inmitten wirtschaftlicher Unsicherheit, Kursschwankungen und sinkender Anlegervertrauen bietet sich Europa eine historische Gelegenheit: als stabiler und attraktiver Finanzplatz aufzutreten. Doch dafür müssen die richtigen Schritte unternommen werden – weniger Komplexität, mehr Klarheit, schnellere Aufsicht und stärkere Integration.

Damit spricht die BaFin eine fundamentale Wahrheit an, die auch juristisch Relevanz besitzt: Der europäische Binnenmarkt kann seine volle Wirkung nur entfalten, wenn regulatorische Harmonisierung nicht durch überbordende Detailverliebtheit erstickt wird. Der Blog verdeutlicht eindrucksvoll, dass der Spagat zwischen Stabilität und Flexibilität möglich ist – und rechtlich auch geboten. Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht gerade vor, dass Harmonisierung nicht zum Selbstzweck wird, sondern zur Verwirklichung des Binnenmarktes beiträgt.

Regulatorische Komplexität: Fluch oder Chance

Der Gesetzgeber auf europäischer wie nationaler Ebene hat in den vergangenen Jahren reagiert – mit Maßnahmen wie Basel III oder Solvency II, die sich trotz hoher Detailtiefe im Angesicht jüngster Krisen als tragfähig erwiesen haben. Doch wie die BaFin deutlich macht, ist nun die Zeit gekommen, einzelne Anforderungen kritisch zu überprüfen.

Nicht jede Richtlinie, nicht jede Meldepflicht bietet in gleichem Maß echten Mehrwert. Wenn etwa kleinere Institute verpflichtet werden, ESG-Richtlinien bis ins letzte Detail umzusetzen, während mangels Relevanz ein Risikopotential praktisch ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit – einem Grundsatz, der nicht nur verwaltungsrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich von zentraler Bedeutung ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit leitet sich nicht nur aus Art. 20 Abs. 3 GG, sondern auch aus der allgemeinen Lehre des Verwaltungsrechts ab. Hiernach sind behördliche Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen zu sein.

Auch ich sehe – aus meiner beratenden Tätigkeit heraus – immer wieder, dass insbesondere kleinere Institute an der übermäßigen Last regulatorischer Anforderungen leiden. Es ist an der Zeit, eine klar strukturierte und effektiv ausgestaltete Prinzipien-basierte Regulierung zu etablieren.

Prinzipien statt Detailhuberei: Eine juristische Neubewertung

Die Forderung der BaFin nach einer Umgestaltung in Richtung Prinzipien-basierter Regulierung ist aus rechtlicher Sicht überaus zu begrüßen. Eine solche Umstellung erlaubt es, innerhalb eines rechtlichen Rahmens flexible Lösungen zu finden, die sich dem schnellen Wandel der Märkte anpassen. Paragrafenreiterei und Detailversessenheit können dabei nicht nur Innovationshemmnisse darstellen, sondern auch Rechtsunsicherheit erzeugen.

Das „Comply or Explain“-Prinzip hat sich in anderen Bereichen – etwa im Bereich Corporate Governance (vgl. Deutscher Corporate Governance Kodex) – bereits als nützlich erwiesen. Es erlaubt Unternehmen, innerhalb gesetzlicher Vorgaben auf spezifische Gegebenheiten einzugehen. Dass die BaFin diese Flexibilität nun auch im Finanzaufsichtsrecht etablieren möchte, ist ein kluger Schritt.

Stabilität und Resilienz als konstante Maximen

Der Blogrufer erinnert mit starker Klarheit daran, dass Stabilität nicht selbstverständlich ist. Märkte funktionieren in Krisenzeiten nicht automatisch. Gerade im nicht-bankenbasierten Finanzsektor (Non-Bank Financial Institution – NBFI) liegen systemische Risiken, die sich juristisch schwer greifen lassen, womit die Bedeutung übergreifender Schutzmechanismen wächst. Der europäische Gesetzgeber ist daher gefordert, einen regulatorischen Gesamtrahmen zu schaffen, in dem nicht nur Banken, sondern auch Kapitalverwalter, Versicherer und Fonds langfristig sicher agieren können.

Die Verpflichtung zukünftiger Asset Manager zur Nutzung von mindestens zwei Liquiditätsmanagementinstrumenten für offene Investmentfonds ist hier ein bemerkenswert konkreter Vorschlag, der aus juristischer Sicht Sinn ergibt – schadet jedoch nicht in der Flexibilität, wenn er nicht schematisch, sondern fallbezogen zur Anwendung kommt. Solche Anforderungen müssen in Einklang mit der Richtlinie 2009/65/EG (UCITS-Richtlinie) gesehen werden, welche die rechtlichen Mindeststandards für Investmentfonds definiert, dabei aber keine Überregulierung verlangt.

Governance als neuralgischer Punkt: Rechtskultur und Verantwortung

Ein besonders interessanter Aspekt für mich als Jurist ist die Hervorhebung der Governance-Problematik kleinerer Institute. Fehlsteuerung beginnt oft nicht bei aufsichtsrechtlichen Kennzahlen, sondern beim mangelhaften Risikoverständnis einzelner Entscheidungsträger. Aus juristischer Sicht ist hier auch die Rede vom sogenannten „Organversagen“. Der § 91 Abs. 2 AktG verpflichtet Vorstände zur Einrichtung eines Frühwarnsystems für Risiken – eine Regel, die längst auch sinngemäß auf andere Unternehmensformen zu übertragen ist.

„Schlechte Governance ist wie blindes Steuer bei schwerer See“, so formulierte ich es in einem meiner Vorträge. Der Beitrag der BaFin liefert hier weitere klare Hinweise: Wenn Führungsorgane in kleineren Unternehmen operativ überlastet oder fachlich unterlegen sind, wird das beste Regelwerk obsolet. Dagegen hilft keine weitere Regulierung, sondern nur der Aufbau von Kompetenzen und Verantwortungsstrukturen.

Weniger Bürokratie, mehr Rechtssicherheit

Reizvoll aus juristischer Perspektive ist auch das klare Votum gegen überflüssige Bürokratie. Die Abschaffung von Nachweispflichten wie dem Immobilienregisterauszug für Immobilienfonds ist ein Paradebeispiel dafür, wie man effektive Aufsicht betreibt, ohne Unternehmer mit sinnlosen Pflichten zu belasten. Der deutsche Gesetzgeber ist hier aufgerufen, das „Zukunftsfinanzierungsgesetz II“ zügig auf den Weg zu bringen.

Bürokratieabbau heißt dabei nicht Deregulierung – vielmehr handelt es sich um eine intelligente Fokussierung aufs Wesentliche. Der Rechtsstaat verlangt, dass jede Maßnahme eines staatlichen Akteurs nachvollziehbar, begründbar und verhältnismäßig ist. Dies gilt auch für BaFin-Rundschreiben, Verwaltungsauffassungen und Auslegungsentscheidungen. Wenn diese selbst zu unüberschaubaren Rechtsquellen anwachsen, tritt eine rechtlich unzureichende Praxis in den Vordergrund, die dringend korrigiert werden muss.

Der Sonderfall ESG-Regularien: Pflicht ja, aber mit Augenmaß

Die Kritik an den ESG-Richtlinien der Europäischen Bankenaufsicht hat aus juristischer Sicht Hand und Fuß. Während ökologische, soziale und Governance-bezogene Aspekte zweifelsfrei von enormer Bedeutung sind, darf deren Umsetzung nicht dogmatisch erfolgen. Der geplante partielle Verzicht auf die vollständige Anwendung der EBA ESG-Guidelines auf kleine Institute ist ein Ausweis pragmatischer Rechtskultur. Rechtssicherheit wird nicht durch quantitative Berichtspflichten geschaffen, sondern durch qualitativ hochwertige Regelungen.

Auch ist zu bedenken: Artikel 20 des Grundgesetzes schützt die Berufsfreiheit. Eine zu weitgehende Regulierung, insbesondere bei nicht-systemrelevanten Instituten, kann unter Umständen die freie Berufsausübung rechtswidrig einschränken. Knapp bemessene Ressourcen kleiner Institute müssen gezielt zum Schutz der Kunden eingesetzt werden, nicht für die Erfüllung pauschaler Pflichten.

Europäische Harmonisierung – aber modular gedacht

Das Ziel einer stärkeren Finanzmarktintegration innerhalb Europas wird berechtigterweise unterstrichen. Doch ich erlaube mir als praktizierender Rechtsanwalt einen Einwand: Harmonisierung muss abgestuft und modular erfolgen. Die Verhältnismäßigkeit der Aufsichtsmaßnahmen ist auch im EU-Recht verankert, etwa im Artikel 5 EUV. Eine starre Gleichbehandlung heterogener Institute kann deren Wettbewerbsfähigkeit gefährden und zu rechtlichen Spannungsverhältnissen führen.

Stattdessen plädiere ich für eine europäische Rechtsstruktur, die mit gemeinsamen Prinzipien agiert, aber nationale Spielräume offenlässt – insbesondere zur Berücksichtigung regionaler Marktbesonderheiten.

Fazit: Die Rechtsordnung ist bereit – nutzen wir sie

Europa steht am Scheideweg. Doch statt Zentralisierung und Überregulierung zu forcieren, müssen Juristen, Aufseher und Politiker neue Wege des regulatorischen Denkens einschlagen. Der Blog der BaFin ist ein starkes Plädoyer für Mut zur Veränderung – ohne den sicherheitsrechtlichen Boden zu verlassen.

Als langjähriger Experte im Finanz- und Kapitalmarktrecht erkenne ich, dass Recht und Wirtschaft gemeinsam neue Modelle entwerfen müssen. Erfolgreiche Regulierung ist kein Korsett, sondern ein intelligentes Schutzsystem, das Handlungsspielräume eröffnet.

„Vertrauen entsteht in einem Umfeld der Klarheit“, sagte ich einst in einem Fachbeitrag zum Thema MiFID II. Genau hierin liegt die Zukunft Europas. Weniger Komplexität, mehr Verständlichkeit und eine Rechtsprechung, die Innovation nicht behindert, sondern begleitet.

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 11376 vom 18. Juni 2025 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich